Geschichte der Pfarrei Reichertsheim
Jeder Überblick über die Geschichte der Pfarrei Reichertsheim muss beginnen mit der Erwähnung jenes Dokumentes von einzigartiger Bedeutung, das unter dem Namen „Das Güterverzeichnis des Bischofs Arno von Salzburg“ bekannt ist. Die Anfertigung dieses Güterverzeichnisses war erforderlich, weil nach Absetzung des letzten bayerischen Herzogs aus dem Hause der Agilolfinger, Tassilo III, im Jahre 788 und nach seiner Verbannung in ein Kloster durch den Herrscher des Frankenreichs und späteren Kaiser Karl den Großen sehr bald die Frage laut geworden ist, welche Güter nun eigentlich seit der Zeit der Agilolfinger zur Salzburger Kirche gehörten.
Als Bischof von Salzburg ist zu dieser Zeit Arno oder Arn auch Abt des Klosters St. Peter, dem die ersten Grundbesitzer in unserem Raum, die Agilolfinger, ihr gesamtes Gut im Isengau tradierten. Darunter auch die Salzburger Eigenkirche „Richerihusir“ mit einer Hube. Dieser Ortsname, zusammengesetzt aus dem Personennamen „Richeri“ (wohl Richard; althochdeutsch: richi- = mächtig; -hard = kühn, mächtig) und dem Suffix –husir (- hausen) bezeichnet das heutige Reichertsheim. Der zusätzliche Hinweis „im Isengau“ (in pago Isanagoe) lässt da keinen Zweifel. Zum Besitz dieser Kirche gehört eine Hube („cum manso 1“). Seit dem Frühmittelalter diente eine Hube oder Hufe als Grundlage für die Einteilung der Acker- und Weideflächen. Sie war kein absolutes Flächenmaß, sondern eine Ertragsgröße. Außerdem ist diese Kirche mit Barschalken ausgestattet. Diese waren der Kirche zu Reichertsheim zu Diensten verpflichtet und zahlten einen Kopfzins. Die Forschung sieht in ihnen Romanen oder Romanenabkömmlinge. Die meisten Orte, die sich als Eigentum der Agilolfingerherzöge nachweisen lassen, lassen römischen Staatsbesitz erkennen, umso mehr, wenn sie an einer Römerstraße liegen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Reichertsheim vor der ersten Nennung einer Kirche bereits besiedelt war und der Ortsname mit der Landnahme bzw. Einwanderung der Bajuwaren und der Stammesbildung auf einen bajuwarischen Besitzer bzw. Namensgeber wechselte.
„Bajuwaren“ leitet sich wohl vom keltischen „Bajo“ ab, damit war die stärkste Gruppe innerhalb des stammesbildenden keltisch-romanisch-germanischen Völkergemischs namensgebend. Wenn auch die Römer offiziell 488 n. Chr. abgezogen sind, hat sich doch bei den zurückgebliebenen Romanen und den romanisierten Kelten die christliche Religion erhalten. Die späteren Bajuwaren waren schon in der Wanderzeit mit dem arianischen Christentum der Goten und der Langobarden, unter deren Oberhoheit sie standen, in Berührung gekommen. Freilich dürfte Christliches und Heidnisches oft in seltsamer Wirrnis nebeneinander gestanden haben. Die eigentliche Missionierung besorgten in zwei Wellen die iroschottischen Wandermönche und die „drei Apostel der Bayern“ St. Emmeran, St. Korbinian und St. Rupert. Nach uralter Überlieferung hat letztgenannter die Marienverehrung in Altötting begründet. Er soll auch in Riedbach ein christliches Gotteshaus gegründet haben.
Sicher ist, dass Riedbach früher den hl. Martinus als Kirchenpatron hatte, während es jetzt der hl. Rupert ist und Martinus Nebenpatron wurde. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Kirche Riedbach zu den ältesten Kirchen des Landes gehört, denn Martinus mit seinem Schimmel wurde oft an die Stelle des germanischen Wotan gesetzt. Der hl. Rupert war sicher klug genug, die schon vorhandenen Ideenverbindungen des hl. Martin mit dem Schimmel, den er aus seiner fränkischen Heimat mitbrachte, zu nutzen. Allerdings wird Riedbach im Güterverzeichnis des Bischofs Arn von Salzburg noch nicht genannt. Die Diözesaneinteilung hatte im Jahr 739 Bonifatius vorgenommen und regelte die bayerischen Verhältnisse. Der gesamte Isengau des alten Stammesherzogtums der Agilolfinger wurde dabei Salzburg zugeschlagen. Schon im 12. Jahrhundert wurde an die Einrichtung sogenannter Archidiakonate gegangen, um eine bessere Verwaltung des riesigen Bistums Salzburg zu gewährleisten. Auf bayerischem Gebiet waren es Herrenchiemsee, Baumburg und Gars. Im 12. Jahrhundert waren diese drei Klöster bereits von Augustiner Chorherren besetzt, deren Probst nun mit einer ähnlichen Funktion wie heute ein Generalvikar die Leitungsgewalt über die Pfarreien seines Archidiakonats hatte. Die Pfarrei Reichertsheim mit ihren Filialen gehörte also zum Archidiakonat Gars. Eigentlicher Pfarrherr war seit spätestens 1150 der Auer Probst, der für Reichertsheim einen Diözesanpriester als Pfarrer benennen und von Salzburg bestätigen lassen musste.
Da Reichertsheim mit seinen Filialen, darunter auch Oberornau, insgesamt fünf Kirchen umfasste, brauchte der Pfarrer die Mithilfe eines Kooperators (auch Excursor genannt), den er sich nach damaligem Recht selbst aussuchen, dann aber auch vom Archidiakonat bestätigen lassen musste. Der erste namentlich bekannte Pfarrer von Reichertsheim ist 1306 Herr Heinrich. Der unmittelbare Nachfolger dieses Herrn Heinrich war Herr Nikolaus, dessen Name bei einer Schenkung des damaligen Ampfinger Pfarrers an das Kloster Au als Zeuge genannt wird. 1372 endlich spricht ein Auer Dokument von einer großen Messstiftung des Pfarrers Berchthold von Reichertsheim für die Armen Seelen. Für das Jahr 1417 ist ein Reichertsheimer Pfarrer namens Leonhard Bauer bezeugt, von dem man nicht ganz sicher weiß, ob es ein Chorherr oder ein Weltpriester war. 1475 und 1477 sind bedeutsame Daten, denn da ließ sich ein Auer Probst wiederum das Ernennungsrecht für die Pfarrer in seinen Kirchen bestätigen, da inzwischen neue Kirchen hinzugekommen waren, z.B. Aschau und Ampfing. Neu war an dieser päpstlichen Verfügung auch, dass der Probst von jetzt an auch eigene Chorherren als Pfarrer auf diese Pfarrei anstellen durfte. Diese Bestätigung hatte aber auch ihre schwache Seite. Nach dem Wortlaut des päpstlichen Erlasses hätte auch die Oberornauer Kirche als Pfarrkirche angesehen werden können, die bei nächster sich bietender Gelegenheit einen eigenen Pfarrer gefordert hätte. Deshalb ließ sich der Probst von Au noch mal eigens vom Archidiakonat in Gars bestätigen, dass Oberornau Filialkirche von Reichertsheim ist und bleibt. Bei der Visitation aller bayerischen Kirchen der Salzburger Erzdiözese von 1558, die auf Initiative des bayerischen Herzogs stattfand, wird als Pfarrer von Reichertsheim Georg Praunsperger genannt. Um 1600 gab es einen Chorherren Petrus Ziegler, der über dreissig Jahre die Pfarrei als Pfarrer betreute. Aus der Zeit um 1630 gibt es die erste erhaltene Beschreibung des gesamten Seelsorgsbezirks des Klosters Au, in die eine Gottesdienstordnung eingefügt ist. Reichertsheim hatte an allen Sonntagen Gottesdienst, Oberornau nur am dritten Sonntag und Riedbach und Hofgiebing nur am vierten Sonntag. Die regelmäßigen Gottesdienste waren zumindest nach dem Dreißigjährigen Krieg vom ersten bis dritten Sonntag in Reichertsheim und Oberornau, also jeweils an beiden Stellen Sonntagsgottesdienst, an den vierten Sonntagen in Riedbach und Hofgiebing.
Aus dieser einfachen Aufzählung ergibt sich eine doppelte Tatsache: Thambach hatte damals keinen regelmäßigen Sonntagsgottesdienst Da es damals keine Erlaubnis für Geistliche gab, eine zweite heilige Messe am gleichen Tag zu lesen, waren für die Betreuung der Gottesdienste zwei Priester notwendig. Der eine war der Pfarrer, der im Ort Reichertsheim im Pfarrhof wohnte und der andere der Kooperator oder Exkursor, das heißt ein Pater des Klosters Au, der jedes Mal eigens zu den Gottesdiensten an die betreffenden Orte kommen musste. Weil damit weite Wege und unter Umständen schwierige Witterungsverhältnisse verbunden waren, wurde als Kooperator meist einer der jüngeren Patres ausgewählt. Über 20 Jahre war der Augustiner-Chorherr Martialis Kauffinger Pfarrer in Reichertsheim, der in seinen Aufzeichnungen einen interessanten Einblick in die Gottesdienstordnung bringt. An Weihnachten und Ostern waren die ersten und die dritten Gottesdienste, also die Mitternachtsmesse und der dritte Gottesdienst jeweils in Reichertsheim und Oberornau, am Weihnachtsfest selber der zweite Gottesdienst in Riedbach und Hofgiebing. Am dritten Feiertag, der damals noch gebotener Feiertag war, war Gottesdienst in Riedbach und Hofgiebing. Diese Ordnung erfuhr zu Pfingsten nur dadurch eine Änderung, dass am Pfingstmontag die herkömmliche Wallfahrt der Pfarrei Reichertsheim nach Gars stattfand. Daher war am dritten Pfingstfeiertag Gottesdienst wieder in Reichertsheim und Oberornau. Am ersten Weihnachtsfeiertag war nachmittags eigens Predigt in Reichertsheim. Am ersten Osterfeiertag und ersten Pfingstfeiertag war die nachmittägliche Festpredigt in Thambach. Wenn schon kein Gottesdienst in Thambach stattfinden konnte, dann sollte wenigstens an Ostern und Pfingsten nachmittags eine Predigt sein. Vom zweiten Fastensonntag an begannen die Fastenpredigten, die abwechselnd vom Pfarrer und vom Kooperator um 13.00 Uhr gehalten wurden.
Warum vom zweiten Fastensonntag an? Die Erklärung ist ganz einfach, denn am ersten Fastensonntag war Markt in Haag. Vor dem vierten Fastensonntag wurden für die Pfarrangehörigen die Osterbeichtzettel ausgeteilt, aufgeschrieben und dabei auch die Abgaben an Getreide und Eiern eingesammelt. Es ist aber ausdrücklich vermerkt, dass nur die Abgabe an Getreide verpflichtend war, die Abgabe an Eiern war dagegen freiwillig. Die Beichtzeit für die Pfarrei Reichertsheim ging vom Samstag vor Palmsonntag bis Karsamstag und war genau auf die vier Kirchen aufgeteilt. Bei zwei Geistlichen hat das damals gereicht. In Thambach war keine Beichtgelegenheit. Die Zeremonien an den Kartagen waren nur in der Pfarrkirche in Reichertsheim und in Oberornau. Die Bittwoche stellte nicht geringe Anforderungen an die Geistlichen, aber auch an die Pfarrangehörigen. Montag war der Bittgang von Reichertsheim nach Oberornau, Dienstag umgekehrt der Bittgang von Oberornau nach Reichertsheim. Mittwoch war Gottesdienst in Riedbach und Bittgang nach Thambach, Donnerstag war frei. Freitag war Gottesdienst in Hofgiebing mit Bittgang nach Oberornau. Samstag in der Bittwoche war Bittgang der gesamten Pfarrei nach Pürten und Altötting. Von Pfingsten bis zum 24. Juli wurden die sonntäglichen Flurumgänge gehalten. Sie wurden die „Vier Evangelien“ genannt, weil dabei immer, wie bei der Fronleichnamsprozession, die vier Evangelien gesungen wurden.
Für die Pfarrei Reichertsheim sind aus dieser Zeit drei Wallfahrten in der Gottesdienstordnung enthalten. Am dritten Sonntag nach Ostern zum Kirchweihfest nach Au a. Inn, am 30. April und 1. Mai nach Tuntenhausen und die Wallfahrt zum Felixfest nach Gars am Sonntag nach dem 4. Mai, die allerdings nicht verpflichtend war. Das Kirchweihfest wurde damals für jede Kirche extra gefeiert. In der Pfarrkirche Reichertsheim war Kirchweih der Sonntag vor dem 8. September, in Oberornau war es der Sonntag vor dem 25. Juli, dem Fest des heiligen Jakobus. In Riedbach war es der Sonntag nach dem 24. September, also nach dem Rupertusfest. In Hofgiebing war es der Sonntag nach Maria Himmelfahrt und in Thambach schließlich der Sonntag nach dem Jakobusfest. Beim Kirchweihfest war Gottesdienst nur in der Kirchweihkirche, das heißt Frühmesse um 6.30 Uhr, die stets der Pfarrer zu halten hatte und ein Festgottesdienst, den der Kooperator halten musste. Etwas ganz besonderes war das Fronleichnamsfest mit seiner Oktav. Von alters her wurden die Gottesdienste in dieser Woche nur in Oberornau gehalten, am Festtag selbst mit Prozession durch den Ort, am Oktavtag mit Prozession nur um die Kirche. Verständlich, dass je länger umso vernehmlicher das Begehren der Reichertsheimer laut wurde, als Pfarrsitz selbst eine Prozession mit Gottesdienst zu haben. Erst am 2. Mai 1784 wurde den Reichertsheimern für den Sonntag in der Okav Gottesdienst mit Prozession gestattet, und – falls sie den Chorherren eigens vergüten – auch an den Wochentagen durch die Oktav.
Für Allerseelen ist angemerkt, dass der Totengottesdienst in Oberornau viel feierlicher gehalten wurde als in Reichertsheim. An Neujahr begann der Gottesdienst schon um 6.00 Uhr früh, um den Pfarrangehörigen die Möglichkeit zu geben, am großen Bruderschaftsfest in Au (Namen Jesu) teilzunehmen. Um 1690 zählte die Zahl derer, die kommunizieren durften, ca. 700 für die gesamte Pfarrei mit Filialen. Um 1715 waren es ca. 900, um 1800 ca. 1000, 1805 ging die Zahl wieder zurück auf ca. 800.
Nach der Säkularisation 1803 setzte die Regierung zwei ehemalige Chorherren von Au als Pfarrer (Martialis Maier) und Kooperator ein. Dem Pfarrer oblag die Betreuung von Reichertsheim, Riedbach und Thambach, dem Kooperator die Sorge für Oberornau und Hofgiebing. Mit dem Konkordat zwischen dem Königreich Bayern und dem Heiligen Stuhl von 1817 und der Einsetzung eines Bischofs 1821 kam Reichertsheim zum Erzbistum München und Freising, Dekanat Mühldorf. Zum Dekanat Gars, das zum Andenken an das durch die Säkularisation aufgehobene Archidiakonat Gars geschaffen wurde, kam Reichertsheim 1887. Nach der statistischen Beschreibung des Erzbistums München und Freising von 1884 ist Reichertsheim eine organisierte Pfarrei mit 1040 Seelen in 185 Häusern.
An Kirchen werden genannt die Pfarrkirche mit einer Kapelle, die Nebenkirche in Thambach und die Filialkirchen in Riedbach (Filiale des Pfarrers), in Oberornau (Hauptfilialkirche des Kooperators) und Hofgiebing (ebenfalls Filiale des Kooperators). Im Jahr 1886 wurde die Expositur Oberornau mit der Filiale Hofgiebing errichtet (Eine „Expositur“ bezeichnet einen Seelsorgebezirk ohne eigene Vermögensverwaltung, bezüglich der Seelsorge besaß die Expositur den Status einer Pfarrgemeinde, wenngleich sie kirchenrechtlich der Mutterpfarrei untergeordnet war). In das im Oktober 1886 fertiggestellte Expositurhaus zog als erster Expositus Peter Antretter aus Flintsbach, der zuvor Kooperator in Schwindkirchen war, ein. Am 1. Oktober 1921 wurde Oberornau selbständige Pfarrei.
Ein großartiges Ereignis für die Pfarrei waren immer bischöfliche Besuche. So kam im Jahr 1889 Erzbischof Antonius von Steichele nach Reichertsheim und rettete mit seiner Stellungnahme die Rokokoausstattung der Pfarrkirche. 1899 eröffnete Erzbischof Franz Josef von Stein mit einer Pontifikalmesse die Mission. Erzbischof Michael Kardinal von Faulhaber besuchte die Pfarrei anlässlich der Firmung von Kindern des kriegsbedingt in die gräfliche Villa in Thambach ausgelagerten Schwabinger Kinderkrankenhauses im Jahr 1947. Zum ersten Mal wurde in der Reichertsheimer Pfarrkirche im Jahr 1976 durch Weihbischof Heinrich Graf von Soden-Frauenhofen das Sakrament der Firmung gespendet. 1984 kam die Pfarrei Reichertsheim zum Pfarrverband Kirchdorf- Ramsau-Reichertsheim, da infolge des Priestermangels nicht mehr jede Pfarrei mit einem eigenen Pfarrer besetzt werden kann. Verbandspfarrer ist seither der aus der Nachbarpfarrei Obertaufkirchen stammende Franz Seisenberger, der im Pfarrhof in Kirchdorf wohnt. Der verwaiste Pfarrhof in Reichertsheim wurde zum Pfarrheim umgebaut und am 21. September 2003 von Weihbischof Bernhard Haßlberger eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben.
Augustin Grundner